Schreiben-Reisen-Lebensbilder
Der Alte wusste nicht mehr, wie lange er schon da lag. Er hatte aufgehört, die Stunden, Tage und Monate zu zählen. An dieses Bett gefesselt zu sein, war zur Gewohnheit geworden. Die Tagesroutine ebenfalls. Dösen, Essen, die Wasch-Prozedur, die feindselige Pflegerin. Sie, die ihren Job hasste und ihn ebenso. Dessen war er sich sicher. Er hasste sie auch. Alles an ihr. Von ihrem Aussehen bis hin zu ihrer Stimme. Somit waren sie quitt.
Es dämmerte. Die Pflegerin war nach der ‚Fütterung‘ gegangen. Diese Prozedur war an Peinlichkeit nicht zu übertreffen. Er fühlte sich dabei jedes Mal wie ein hilfloses Baby, gefangen in seiner pergamentartigen Hülle. Ja, er war alt. Die Haut war faltig, die Augen fast blind, seine Reflexe nahezu ausgelöscht und der Körper eine verbrauchte Ruine. Aber noch lebte er.
Langsam wurde es dunkel und er versuchte zu schlafen. Einen Versuch war es wert. Gleichzeitig wusste er, dass er nicht Einschlafen würde. Er hatte es satt. Was war dieses armselige Leben wert? Wofür lohnte es sich noch?
„Hey alter Mann!“
Wurde er jetzt auch noch verrückt? Der Alte war sich sicher, eine Stimme gehört zu haben. Instinktiv drehte er seinen Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen war. Mittlerweile war es stockfinster. Er konnte weder Schemen erkennen, noch sonstiges. Ihm war, als höre er das Geräusch eines aneinander reibenden Stoffes. Langsam und rhythmisch. Als würde etwas auf ihn zukommen. Die ständige Beschäftigung mit sich selbst in seiner vertrauten Umgebung hatte seine Sinne geschärft. Manchmal glaubte er sogar, die Bewegung der illegalen Mitbewohner, der Weberknechte und Spinnen wahrzunehmen.
„Ist da jemand?“, rief er zögerlich. Nichts. Stille. Dann vernahm er es wieder. Das Rascheln eines schweren Stoffes im Rhythmus träger Schritte. Es näherte sich. Nun war er sicher. Etwas Fremdes befand im Raum. Sein Puls beschleunigte sich. Er hatte Angst. Er griff nach der Nachttischlampe. Dazu musste er sich bewegen, was schmerzhaft sein würde. Sein Wille verlieh ihm ungeahnte Kräfte und er schaffte es, seinen Oberkörper in Richtung Lampe zu drehen. Seine Hand griff nach dem Schalter, verfehlte ihn und stieß stattdessen gegen den Lampenschirm. Am Geräusch des dumpfen Aufpralls am Boden erkannte er entsetzt, das das Manöver gescheitert war.
„Keine Angst, alter Mann, es ist ganz schnell vorbei“, säuselte die Stimme. Etwas kam immer näher. Panik ergriff den Alten. Sein Puls raste. Nun blieb nur noch der Notschalter über ihm. Er musste ihn erreichen. Suchend fuchtelten seine ausgezehrten Arme in der Dunkelheit. Aber da war nichts. Es streifte ihn stattdessen einen eiskalter Atem, welcher nach modriger Erde roch.
Da begann der Alte zu schreien …
„Na, Alterchen, schlecht geträumt?“, fragte die Pflegerin und hob die Bettdecke hoch. „Und schon wieder die Bettwäsche durchgeschwitzt!“
In diesem Moment fiel ihm auf, wie schön der Klang ihrer Stimme war …
© LoPadi 2019-04-12